Dieser Text entstand im Rahmen des Museumsjubiläums 2024. Für das Projekt „150 Jahre 150 Objekte“ in der Sammlung Online wurden Leipzigerinnen und Leipziger nach ihrem Blick auf die Sammlung gefragt:


Das Bild

Ein großer Speisesaal. Kinder sitzen an langen Tischen. An dem einen die Kleinsten, an dem saß er, dann die Mittleren, dann die Großen, die waren zehn, zwölf Jahre alt. Wer aufgegessen hatte, durfte gehen. Ihm gegenüber stocherte ein Mädchen im Essen herum. Hinter ihr an der Wand hing ein großes Bild. Eigentlich waren es nur Farben: viel Blau, Grau, Braun, Schwarz und unten ein roter Fleck.
An den Tischen liefen zwei Betreuerinnen entlang. „Essen, nicht träumen!“ Das Mädchen erhielt einen derben Stoß. Milch spritzte vom Teller auf das Wachstuch. Er schaute auf sein Essen. Noch drei Löffel. Zu Hause gab es Marmelade. Ob heute ein Päckchen kommt? Die Mutti hatte es ihm versprochen, zur Abfahrt, als er nicht in den Bus steigen wollte. Noch zwei Löffel. Am Tisch war es leer geworden. Von draußen hörte man das Stimmengewirr der anderen. Eine Aufpasserin blieb am Tisch stehen. „Wirds bald?!“ Sie zog das Mädchen am Zopf nach hinten und stieß dann ihr Gesicht wieder nach vorn in den Teller, bis sie hustete.
Er fühlte die Tränen kommen. Nicht weinen. Noch ein Löffel. Er wagte kaum aufzusehen. Aus der Nase des Mädchens kam Blut. Das Rot tropfte in die Suppe. Er sah, wie sich der Löffel mit dem roten Punkt in ihren Mund schob.
Am nächsten Tag war das Mädchen nicht da. Und auch nicht danach. Da war nur das Bild an der Wand. Viel Blau, Grau, Braun, Schwarz und ein roter Fleck.


Daniela Neumann, Stadtführerin in Leipzig