Dieser Text entstand im Rahmen des Museumsjubiläums 2024. Für das Projekt „150 Jahre 150 Objekte“ in der Sammlung Online wurden Leipzigerinnen und Leipziger nach ihrem Blick auf die Sammlung gefragt:

Am frühen Morgen eines Tages des Jahres 1914 durchstreifte Lara die Flure des Grassimuseums in Leipzig. Sie war auf der Suche nach ihrem Vater, dem Wärter. Plötzlich stand sie vor einer Vitrine mit Exponaten, die neu in das Museum gekommen waren. Ihr Blick blieb auf einem persischen Teppich aus Herat ruhen. Ihre Augen verfolgten die Farben, Linien und Muster. Ein prächtiger Teppich, der bewundernde Blicke auf sich zieht.

Mit einer sachten Berührung streifte Lara das Textil. Plötzlich und unerwartet fand sie sich in der lebhaften Atmosphäre Ostpersiens wieder, umgeben von den Gerüchen von Gewürzen und den Klängen des Basars. Sie sah Teppichknüpfende bei ihrer Arbeit, umgeben von einem Kaleidoskop aus Farben und Mustern, die bis heute die Welt faszinieren. Sie erlebte aus erster Hand das Leben, das durch Handwerk, Tradition und den Handel entlang der Seidenstraße geprägt war.

Zurück im Museum sah Lara den Knüpfteppich nicht mehr als ein einfaches Ausstellungsstück. Die Sammlung des Museums erschien ihr in einem neuen Licht, bereichert durch die Essenz der Geschichten, die sie gerade erlebt hatte. Mit einem letzten Blick auf das Textil kehrte sie zu ihren Aufgaben zurück. Das Museum erschien ihr verändert. Sie fühlte sich erfüllt von ihren Entdeckungen in der Welt der angewandten Kunst.


Christin Müller-Wenzel, Kunstwissenschaftlerin, 43 Jahre