(076) Vase

Beteiligte

Walter Gebauer Ausführung

Datierung

1948 ? Ausführung

Geographischer Bezug


Maße

20,5 cm (Höhe)
13 cm (Durchmesser)

Erwerb

Ankauf auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1948 von der Töpferwerkstatt, Walter Gebauer, Bürgel/Thür.

Inventarnummer

1948.22

Standort

Aktuell nicht ausgestellt

Schlagwortkette

Blume; Blumenarrangement; Blumenstrauß

Sammlung

Kunsthandwerk und Design ab Historismus

Dieser Text entstand im Rahmen des Museumsjubiläums 2024. Für das Projekt „150 Jahre 150 Objekte“ in der Sammlung Online wurden Leipzigerinnen und Leipziger nach ihrem Blick auf die Sammlung gefragt:

Die Magie der Vasen
Clara-Lili genoss ihre Ankunft auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Die letzten Arbeitsjahre waren intensiv, belastend und nur von sehr kurzen Erholungspausen gekennzeichnet. Jetzt, im Alter von 66 Jahren, spürte sie die Auswirkungen. Nur selten war sie in ihrer Wohnung, wo es doch den schönen Blick auf die sanften Berge gab. Mehr als 20 Jahre war sie unterwegs mit ihren Vorträgen. Hotelzimmer im ganzen Land gaben ihr Unterkunft, doch kein Zuhause. In diesem Moment in der Bahnhofshalle dieser geschichtsträchtigen Stadt mitten im munteren Treiben der Reisenden, die durch die Halle eilten oder in Richtung Stadt schlenderten, fühlte sie ein Angekommen. Sie wählte den Weg in Richtung Nikolai-Kirche, in deren Nähe ihr Hotel war. Als sie bei vielen Vorübergehenden den vertrauten Klang des sächsischen Dialekts hörte, schmunzelte sie. Die frühlingshafte Sonne und die frühsommerlichen Temperaturen lockten die Menschen an die Tische im Freien. Morgen würde sie nach dem Besuch im Grassi-Museum mit Biggi, ihrer besten Freundin, hier irgendwo sitzen, endlos schwatzend über Neues und Altes. Ihre Gedanken sprangen zurück: Ende der Siebziger Jahre - heiter erinnerte sie sich an ihre Studentenzeit und an ihre Jobs während der Leipziger Messe in Leipzig. Zu dieser Zeit war das Grassi-Museum Ausstellungsgebäude für die Messe so wie die bekannten Höfe im Zentrum. Im Grassi-Museum zentriert waren die Stände und Aussteller des Kunsthandwerks. Einer ihrer Studienfreunde arbeitete während der Messe an einem Stand. Schon damals gefielen ihr die verschiedenartig gestalteten Keramik-Vasen. Schier unerschöpflich schienen die Formen und Muster mal in schillernd fast kunterbunten oder in matten fast stumpfen Farben zu sein. Viele der Ausstellungsstücke wurden anschließend verkauft. Sie waren schwer zu bekommen. Für 20 Mark vermittelte ihr Freund ihr zwar keine Vase aus Ton, doch einen großen kobaltblauen handgeblasenen Kognakschwenker aus Glas. Dieser ist verpackt in einem der diversen Umzugskartons. An diesem ersten Abend spazierte sie wie vor mehr als 30 Jahren durch die Stadt der untergehenden Sonne entgegen, unwillkürlich in Richtung Clara-Park. Doch sie bremste ihre Schritte und folgte nicht diesem Impuls, Orte, die mit weit zurückliegenden Erinnerungen verbunden waren, zu sehen. Sie gab sich einen Ruck, ging zurück zum Wilhelm-LeuschnerPlatz, der heute Platz der friedlichen Revolution heißt. Erwartungsvoll stieg sie in die Tram und fuhr am GrassiMuseum vorbei in Richtung Südfriedhof zum Abendessen mit ihren alten Studienfreunden. Neben dem Aufleben der gemeinsamen Erinnerungen werden sie sicher mit ungebrochener Diskussionsfreude Zeitgeschehnisse reflektieren. Am nächsten Tag, nach einem ausgiebigen und gemütlichen Frühstück, holte Biggi, ihre alte und beste Freundin, sie vom Hotel ab. Munter erzählend gingen sie den bekannten Weg durch die Stadt, um die neue Ausstellung anlässlich 150 Jahre Grassi-Museum zu besuchen. Viele wunderbare Exponate luden zum Betrachten und Sinnieren ein. In einem Ausstellungsraum fiel Clara-Lilis Blick auf zwei Vasen, Keramik, beigefarben glasiert, gefertigt von Walter Gebauer, vermutlich von 1948. Die etwas im Hintergrund stehende zylindrische Vase wirkt schlank, voll überzogen von der Glasur. Nur am Fuß ist ein brauner Streifen, ein Stück des Scherbens, zu sehen. Die zweite Vase, von gleicher Höhe, ist etwas bauchig. Die Glasur verdeckt nur den oberen Teil und läuft in Nasen bis zur Mitte des Gefäßkörpers herunter. Beide Vasen sind mit einer kleinen Halszone geprägt. Die Wandungen gehen ohne Fuß in den eingezogenen Standboden über. Sofort dachte Clara, dass hier zwei Figuren eng verbunden sind und zusammengehören. Die bauchige etwas rundliche Vase scheint sich anzuschmiegen an die zylindrische unbiegsam wirkende hintere Vase. Ihre Phantasie ließ sie an ein Menschen-Paar denken. Ein Paar, dass sie und Carl-Winfried nie wirklich waren. Carl-Winfried, vor 40 Jahren ihr geliebter Freund, entwarf und töpferte begehrte Vasen mit glasierten geometrischen Mustern, Fayancen, die in Fachkreisen Anerkennung erfuhren. Viele Exemplare standen in Ausstellungen und eine kleine Auswahl in seiner Wohnung. Schlagartig sah sie klare Bilder und detailgetreue Einzelheiten: Clara stand in seiner damaligen Wohnung nahe des Clara-Parks und gab den riesig wirkenden Grünpflanzen aus einer Zinkkanne Wasser. Er hielt sich in Spanien auf, um eine Ausstellung zu eröffnen. Dorthin zu reisen war zu jener Zeit ein kleines Wunder. Nun ja, er war ein Künstler auch im praktischen Lebensalltag. Sie durfte nicht mitfahren in das nichtsozialistische Ausland, wie es damals hieß. Carl-Winfried nahm sie oft nicht mit - in seine Ausstellungen, zeigte sie nicht - in seiner Künstlerwelt. Zum ersten Mal trafen sie sich an einem See, der früher dicht an das Braunkohlentagebaugebiet grenzte und heute ein vielbesuchter attraktiver Ort ist. Dort küssten sie sich ohne die schmunzelnden Menschen ringsum zu sehen. Dass ihre Lippen so viele sensible Punkte in sich bargen, ein langer Kuss so viel auslösen konnte, das wusste Clara-Lili bisher nicht. Tage später verabschiedete er sich abrupt mit dem Hinweis auf eine andere Frau. Die Wirklichkeit holte ClaraLili aus ihrer Träumerei zurück. Einige Wochen danach tauchte er erneut auf – dort an ihrem Platz am See. Wieder küssten sie sich. Er nahm sie mit in seine Wohnung in ein ehemals schmuckes eher schlichtes Haus aus der Biedermeierzeit. Die untergehende Sonne, die die Fassade in ein warmes Licht tauchte, konnte die Spuren des jahrelangen Zerfalls nicht verdecken. Die Schönheit der Treppe versteckte sich unter einer roten dicken Bohnerwachsschicht. Stürmische Novemberkälte drang durch die undichten Fenster. Sie tranken Rotwein und wärmten sich an ihren Körpern. Da sah sie die liebevolle Wärme in seinen braunen Augen. Seine wohltönende tiefe Stimme und seine Worte „ach Clara…“ ließen sie in diesen Momenten eine tiefe Nähe spüren. Sie redeten viel, diskutierten darüber, warum sie so sind, wie sie sind. Clara-Lili vernachlässigte ihr Studium, ihre Freunde, wollte nur mit ihm zusammen sein, liebte ihn… An jenem Tag in der Wohnung strich sie behutsam über seine Vasen, die Fayencen. Erneut verstärkte sich ihre bereits wochenlang andauernde innere Unruhe. Sie fragte sich, wie lange sie den unsicheren Zustand noch aushielte. Seinen Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit, sein Schwanken und seine Angst sich zu binden, verstand sie intuitiv. Ihr fehlte der Mut mit ihm zu sprechen. Hatte er seine Gefühle versteckt, so wie die Glasur der zylindrischen Vase den braunen Ton verdeckte? Bis in die tiefe Nacht arbeitete er um eine, seine, Vollkommenheit in der Keramikgestaltung zu erreichen. Sie sah sich selbst im Spiegel der bauchigen Vase - der Fluss der Glasur - ihre nächtlichen Tränenströme, die Rundungen, die er an ihr so mochte, der braune Ton - ihr Wunsch nach Bodenständigkeit. Viele Künstler, auch Leipziger, verließen zu dieser Zeit das Land. Würde er aus Spanien zurückkommen? Oder die Freiheit im „Westen“ wählen? Claras Ahnung bestätigte sich. Aus Spanien kehrte er nicht zurück. Sie hörte es von Freunden - keine Adresse, keine Briefe. Sie litt schmerzhaft und heftig an diesem „kalten Entzug“ - dieser Art der Trennung. Jahre später studierte sie Psychologie, wurde eine erfolgreiche Therapeutin. Ihre lebendigen und erfahrungsreichen Vorträge waren im ganzen Land sehr gefragt. Zurück in der Gegenwart sah sie die beiden Vasen in der Vitrine – ihre schlichte Schönheit und fragte sich, wo sie denn sein mögen, seine Keramikobjekte, die braunen Vasen mit den roten, weißen Streifenmustern und er…? Die drängenden Worte ihrer resoluten Freundin Biggi holten sie aus der Magie der Transformation zurück in die Gegenwart: „Lass uns gehen, der Makler wartet mit dem Schlüssel für deine neue Wohnung.“ Das Vasen-Paar fotografierte sie und ging dann entschlossenen Schritts zum Ausgang. Eine tiefe Freude und eine energiegeladene Lust auf ihren neuen Lebensabschnitt und die Neugier auf ihr zukünftiges Zuhause, dort in der Nähe des bekannten Sees, erfüllte sie. Und Vasen, welche auch immer, werden ihre Wohnung verschönern, sie ermuntern Geschichten zu erzählen und zu schreiben.

Luise Hartung, 69 Jahre

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