Dieser Text entstand im Rahmen des Museumsjubiläums 2024. Für das Projekt „150 Jahre 150 Objekte“ in der Sammlung Online wurden Leipzigerinnen und Leipziger nach ihrem Blick auf die Sammlung gefragt:


Der Zauberteppich

An meiner Wand hängt ein Teppich mit Rautenmustern und schönen bunten Erdfarben.
Er ziert mein Zuhause. Er macht es bunter, schöner, wärmer.

Dieser Teppich kann aber auch mehr.
Er kann fliegen.
Manchmal, wenn ich am richtigen Tag, zum richtigen Zeitpunkt meinen Teppich vor die Terrassentür lege, mich daraufsetze und die richtigen Worte spreche, erhebt er sich mit mir in die Luft, erst langsam, dann immer höher.
Und höher.
Erst sind wir so hoch wie der Holztisch auf unserer Terrasse. Dann steigen wir langsam weiter auf bis zu den Fenstern des zweiten Stockes. Wir steigen weiter, und ich sehe das Dach unseres Hauses von oben. Ich sehe, wie grauer Rauch aus unserem Schornstein quillt.
Und dann geht es auf einmal mit einem Ruck vorwärts.
Der Teppich fliegt.
Er fliegt über unsere Tanne und unseren Ginkobaum
Vorbei an der großen Thuja
Er fliegt über das Labor und über die Dächer der Nachbarhäuser
Er fliegt über den Schlosspark und über die Gösel
Er fliegt und fliegt und fliegt
Dem Horizont entgegen
Er fliegt in den Himmel
Ich spüre den Fahrtwind auf meinem Gesicht und genieße, wie der Wind mit meinen Haaren spielt
Wir steigen immer höher
Durchbrechen die Wolkendecke
Die Sonne geht gerade unter und malt wunderschöne Farben auf die Wolken
Rosa, blau, golden, violett

Es ist schön
Aber mir ist im Fahrtwind auch kalt
Da bringt mich der Teppich zurück in mein warmes Zuhause.

Der Teppich weiß, wann ich bereit bin zu fliegen. Nur dann fliegt er.


Anja Ehnes-Ballan, 53 Jahre, Sozialpädagogin